Im SPNV liegt immenses CO2-Einsparpotenzial
Wissenschaftliche Prognose bietet wertvolle Einblicke
Die Vision für den Schienenpersonennahverkehr (SPNV) in Nordrhein-Westfalen (NRW) ist klar: Bis 2040 soll er nicht nur den Straßenverkehr entlasten, sondern auch einen maßgeblichen Beitrag zum Klimaschutz leisten. Im Rahmen einer Potenzialabschätzung wurden von den Wissenschaftler*innen des Wuppertal Instituts sowohl die verkehrlichen als auch die klimatischen Auswirkungen der SPNV-Zielnetzplanungen für 2040 untersucht. Diese wissenschaftliche Prognose bietet wertvolle Einblicke in die Möglichkeiten, den Individualverkehr zu reduzieren und gleichzeitig die CO2-Emissionen zu senken.
Ein Vergleich der Szenarien: Zielnetz und ohne Zielnetz
„Unser Ziel war es, die verkehrlichen Potenziale und die möglichen Klimawirkungen des SPNV-Ausbaus abzuschätzen, wie er mit dem Zielnetz 2040 geplant ist. Hierzu haben wir mithilfe des Landesverkehrsmodells berechnet, wieviel zusätzlicher Personenverkehr auf der Schiene durch die gesteigerten Angebote des Zielnetzes zu erwarten ist und wie sich der Autoverkehr dann entwickelt. Dem gegenüber haben wir ein Szenario ohne Zielnetz betrachtet, in dem ebenfalls ins Jahr 2040 geblickt wird, allerdings ohne eine Umsetzung der Zielnetzmaßnahmen. Die Differenz beider Szenarien ist das Zielnetzpotenzial."
Ulrich Jansen
Wuppertal Institut, Research für Energie-, Verkehrs- und Klimapolitik
Doch wie sieht das Schienennetz im Jahr 2040 aus? Die Forschenden des Wuppertal Instituts sind für ihre Prognose von zwei möglichen Szenarien ausgegangen. Zum einem die vollständige Umsetzung des Zielnetzes SPNV NRW für das Jahr 2040. Dieses umfasst unter anderem mehr Verbindungen, bessere Anschlüsse und kürzere Reisezeiten. Um die Auswirkungen des Zielnetzes realistisch abzubilden, wurde es mit einem Szenario ohne Zielnetz verglichen, in dem nur bereits beschlossene Maßnahmen bis 2026 berücksichtigt werden. Dies ermöglicht eine klare Abgrenzung der zusätzlichen Effekte, die das Zielnetz 2040 mit sich bringen könnte.
So oder so: Mittels des NRW-Verkehrsmodells wurde abgeschätzt, dass ein qualitativ verbessertes und quantitativ ausgeweitetes SPNV-Angebot in mengenmäßig bedeutendem Umfang Fahrten im motorisierten Individualverkehr (MIV) auf den SPNV verlagern wird - auch im Fall ohne Zielnetz. Ohne das Zielnetz werden im Jahr 2040 schätzungsweise noch 76,3 Milliarden Fahrzeugkilometer im MIV zurückgelegt. Mit dem Zielnetz sinkt diese Zahl auf 71,6 Milliarden Kilometer, etwa sechs Prozent weniger. 2023 waren es rund 80 Milliarden Kilometer.
Diese Verkehrsverlagerung wirkt sich auf die CO2-Emissionen aus: Während im Szenario ohne Zielnetz die CO2-Belastung durch Pkw bei 3,52 Millionen Tonnen liegt, führt die Realisierung des Zielnetzes zu einer Reduktion auf 3,31 Millionen Tonnen. Dies bedeutet eine Einsparung von etwa 217.000 Tonnen CO2.
Zusammensetzung der Pkw-Flotte 2040
Dass mehr als 64 Prozent der Autos in NRW im Jahr 2040 elektrisch betrieben sein sollen, klingt aus heutiger Sicht ziemlich ambitioniert – allerdings gilt es hier, diverse politische Maßnahmen gegen Benzin- und Dieselfahrzeuge zu berücksichtigen. So hat die EU beispielsweise ein Verbrenner-Aus für 2035 beschlossen. Dann dürfen keine neuen Benzin- oder Dieselfahrzeuge mehr verkauft werden.
„Die Antriebswende auf der Straße und auf der Schiene hat bereits angefangen, und in den nächsten Jahren wird sie sich in großen Schritten weiterentwickeln. Was heute utopisch klingt, kann bei neuer Technik schnell zum Alltag werden – erinnern Sie sich an die Zeit, als die ersten Smartphones auf den Markt kamen: 10 Jahre später gab es kaum noch andere Telefone.“
Thorsten Koska
Wuppertal Institut, Forschungsbereich Mobilität und Verkehrspolitik
Eine große CO2-Einsparung wird durch die sinkende Nutzung von Benzin- und Dieselfahrzeugen erreicht, während der Anteil an batterieelektrischen Fahrzeugen (BEV) deutlich steigt. Für das Jahr 2040 wird davon ausgegangen, dass rund 64 Prozent der Pkw elektrisch betrieben werden. Zum Vergleich: In 2022, dem Jahr mit den aktuell verfügbaren CO2-Emissionen für den motorisierten Individualverkehr (MIV), verursachten Pkw in NRW mehr als 28.100.000 Tonnen CO2.
Der SPNV als Klimaschutzmotor
Das Zielnetz für den SPNV hat nicht nur das Potenzial, den Pkw-Verkehr zu reduzieren. Auch innerhalb des SPNVs selbst wird durch den Einsatz moderner, umweltfreundlicher Antriebe eine erhebliche Reduktion der Emissionen erwartet. Bis 2040 sollen Fahrzeuge mit Dieselantrieb vollständig aus dem SPNV in Nordrhein-Westfalen verschwinden. Stattdessen werden Oberleitungszüge, batteriebetriebene Fahrzeuge und in geringem Maße auch Wasserstoffzüge zum Einsatz kommen. Während die Verkehrsleistung des SPNVs im Zielnetz-Szenario auf über 209 Millionen Zugkilometer ansteigt – eine Verdopplung gegenüber 2023, sinken die CO2-Emissionen um 90 Prozent. Dies liegt vor allem an der Umstellung auf emissionsarme Antriebe und den sinkenden CO2-Emissionen des Strommixes in Deutschland, der 2040 voraussichtlich nur noch 27 Gramm CO2 pro Kilowattstunde verursachen soll (Zum Vergleich: In 2023 waren es rund 400 Gramm CO2 je Kilowattstunde Strom).
Entwicklung Zugkilometer und Personenkilometer im SPNV
Trotz des deutlichen SPNV-Ausbaus führen die Umstellungen der Antriebe und die Reduktion des Energieverbrauchs pro Zugkilometer zu einer bemerkenswerten Einsparung. Im Zielnetz-Szenario werden die CO2-Emissionen des SPNV im Jahr 2040 auf 40.000 Tonnen geschätzt – das sind rund 360.000 Tonnen weniger als im Jahr 2023. Auch im Szenario ohne die Realisierung des Zielnetzes, wären die Emissionen des SPNV geringer als heute. Dass sie mit etwa 24.000 Tonnen sogar noch niedriger als im Zielnetz-Szenario ausfallen würden, liegt an den weniger gefahrenen Zugkilometern. Im Fall ohne Zielnetz würden diese entgegen der Verdopplung des angestrebten Zielnetzes nur um 25 Prozent steigen.
Zusätzliche Einsparungen auf der Straße
Durch die Realisierung des Zielnetzes würden im Jahr 2040 gegenüber der Nicht-Realisierung zudem sechs Prozent der Pkw-Fahrleistung und somit zusätzlich 217.000 Tonnen durch den Pkw verursachtes CO2 eingespart. Das ist ein relevanter Beitrag, vor allem angesichts der Herausforderungen, vor denen Nordrhein-Westfalen in Sachen Klimaschutz steht. Dennoch zeigt der Vergleich mit den Gesamtemissionen des Verkehrssektors, dass noch erhebliche weitere Anstrengungen notwendig sind. Um die im Bundesklimaschutzgesetz verankerte Klimaneutralität bis 2045 zu erreichen, wird es nicht ausreichen, nur den SPNV auszubauen. Es bedarf weiterer ambitionierter Maßnahmen, die sowohl den MIV als auch andere Verkehrsmittel und -träger betreffen.
Was bedeuten diese Prognosen für Politik und Gesellschaft? Die Forschenden des Wuppertal Instituts haben detaillierte Handlungsempfehlungen formuliert. Diese finden Sie hier.
Methodisches Vorgehen
Die Forschenden des Wuppertal Instituts haben für ihre Berechnungen zur Klimabilanz 2023 verschiedene methodische Vorgehensweisen genutzt, die nachfolgend erläutert werden.
Territorialprinzip
Die Klimabilanz wurde nach dem Territorialprinzip erstellt: Es wurden alle Angebotsformen im SPNV – Regionalexpresszüge, Regionalbahnen, S-Bahnen sowie Schienenersatzverkehre – und die dadurch verursachten CO2-Emissionen innerhalb der Grenzen von Nordrhein-Westfalen bilanziell berücksichtigt.
Clusterbildung für die zugkilometerspezifischen Energieverbräuche
Zur Berechnung der zugkilometerspezifischen Energieverbräuche im SPNV NRW wurden zwölf Liniencluster mit vergleichbaren Bediengebieten sowie Schienenfahrzeugen mit ähnlichen Strom- und Kraftstoffverbräuchen gebildet. Dieses Vorgehen wurde zur Vereinfachung der Berechnung gewählt, da es 20 verschiedene Zug- und Triebwagentypen auf mehr als 100 SPNV-Linien gibt. Dabei können die zugkilometerspezifischen Energieverbräuche u.a. aufgrund topographischer Bedingungen oder auch der Wagenzahl variieren. Auf Basis von durchschnittlichen Verbrauchsdaten ausgewählter Eisenbahnunternehmen konnte für jedes der zwölf Cluster der fahrzeugkilometerspezifische Strom- oder Dieselverbrauch abgeschätzt werden. Anschließend wurden die 2023 auf allen SPNV-Linien in NRW erbrachten Zugkilometer aufgeschlüsselt und den jeweiligen Verbrauchsclustern zugeordnet. Danach wurden die auf den Linien des jeweiligen Clusters insgesamt zurückgelegten Zugkilometer mit den Verbrauchsfaktoren der Cluster multipliziert.
Extra-Berechnung für die Fahrleistung im Schienenersatzverkehr
Die Klimabilanz für den SPNV NRW schließt auch die CO2-Emissionen ein, die durch Schienenersatzverkehre (SEV) entstehen. Die insgesamt im Schienenersatzverkehr zurückgelegten Kilometer wurden mit dem durchschnittlichen Verbrauch konventioneller Dieselbusse im Linienverkehr multipliziert. Um die Umwege des Schienenersatzverkehrs gegenüber dem Zug zu berücksichtigen, wurde die Verkehrsleistung mit dem Faktor 1 Zugkilometer : 1,5 Fahrzeugkilometer im SEV berechnet.
Berücksichtigung der Emissionen aus der Stromerzeugung
Die Klimabilanz für den SPNV NRW weicht bei der Zuweisung der Emissionen zu den jeweiligen Verursachern vom Treibhausgas-Emissionsinventar des LANUV NRW ab. Das Emissionsinventar weist dem Schienenverkehr nur die Emissionen aus dem Verbrauch von Kraftstoffen zu, während die strombedingten Emissionen dem Sektor der Energiewirtschaft zugeordnet sind. Für die Klimabilanz haben sich die Forscher/innen des Wuppertal Instituts bewusst dafür entschieden, dem SPNV auch die Emissionen aus dem Stromverbrauch zuzuweisen, um einen Vergleich der beiden Antriebsarten hinsichtlich ihrer Klimaschutz-Potenziale zu ermöglichen.
Daten zu Fahrgastzahlen im SPNV NRW
Für die CO2-Bilanz auf Basis der Personenkilometer wurden die aus Verkehrserhebungen gewonnenen Daten zu Fahrgastzahlen und den jeweils zurückgelegten Distanzen auf den verschiedenen SPNV-Linien genutzt. Lagen die linienspezifischen Daten für 2023 nicht vor, wurde auf Daten aus dem NRW-Verkehrsmodell zurückgegriffen.
NRW-spezifischer CO2-Emissionsfaktor Personenkilometer SPNV
Zur Berechnung der CO2-Emissionen wurde vorab ein NRW-spezifischer CO2-Emissionsfaktor Personenkilometer SPNV entwickelt: sowohl für die Strom- als auch für die Dieseltraktion. Mit diesem lassen sich die Spezifika und Besonderheiten des SPNV-Angebots in NRW sowie Art und Umfang der Nutzung abbilden. Der Emissionsfaktor beschreibt jeweils spezifisch für das betrachtete Verkehrsmittel, wie viel Energie es verbraucht und wie viel CO2 emittiert wird, um eine Person einen Kilometer zu befördern. Der Emissionsfaktor für die Personenkilometer steht somit in direktem Zusammenhang mit der Auslastung eines Fahrzeugs. Er sinkt mit steigender Auslastung des Fahrzeugs und steigt, wenn die Auslastung zurückgeht.
Berechnung der NRW-spezifischen Fahrzeugauslastung
NRW ist durch eine Reihe von Spezifika charakterisiert, die eine höhere Auslastung der eingesetzten Fahrzeuge als im Bundesdurchschnitt vermuten lassen. Diese Besonderheiten sind beispielsweise die vielen Ballungsräume, eine hohe Zahl von Menschen im Einzugsbereich von SPNV-Linien und die höchste Bevölkerungsdichte aller Flächenbundesländer in Deutschland. Die höhere Fahrzeugauslastung wurde in allen Berechnungen berücksichtigt.

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Quellen
Deutsche Energie-Agentur GmbH (dena) (Hrsg.) (2018): dena-Leitstudie Integrierte Energiewende. Berlin. Online verfügbar unter PDF
www.dena.de/fileadmin/dena/Dokumente/Pdf/9261_dena-Leitstudie_Integrierte_Energiewende_lang.pdf
Letzter Zugriff am 28. April 2024. (auch hier zu finden)Deutsche Energie-Agentur GmbH (dena) (Hrsg.) (2021): dena-Leitstudie Aufbruch Klimaneutralität. Berlin. Online verfügbar unter
https://www.dena.de/fileadmin/dena/Publikationen/PDFs/2021/Abschlussbericht_dena-Leitstudie_Aufbruch_Klimaneutralitaet.pdf
Letzter Zugriff am 28. April 2024.Kompetenzcenter Integraler Taktfahrplan (KCITF) (2019): Elektrifizierungssachstand für das NRW-SPNV-Netz inkl. Überblick zum NRW-SGV-Streckennetz (nicht veröffentlicht). Bielefeld.
Kompetenzcenter Integraler Taktfahrplan (KCITF) (2024): Schätzung der Verkehrsleistung des SPNVs in NRW im Jahr 2040 mit und ohne Umsetzung des Zielnetzes differenziert nach Antriebsart (nicht veröffentlicht). Bielefeld.
PTV Planung Transport Verkehr (PTV) (2024): Verkehrsleistung des SPNVs in NRW für das Jahr 2040 auf Basis der Zug- und der Personenkilometer (Auszug aus dem NRW-Verkehrsmodell, nicht veröffentlicht). Dresden.
PTV Planung Transport Verkehr (PTV) (2024): Verkehrsleistung des MIVs in NRW für das Jahr 2040 auf Basis der Zug- und der Personenkilometer (Auszug aus dem NRW-Verkehrsmodell, nicht veröffentlicht). Dresden.
Verkehrsverbund Rhein-Ruhr (VRR) (o.J.): Der Schiene gehört die Zukunft! Das Zielnetz 2040 des VRR für die Metropolregion Rhein-Ruhr. Gelsenkirchen. Online verfügbar unter
https://www.vrr.de/fileadmin/user_upload/pdf/magazin/2023_Artikel/Zielnetz_2040.pdf
Letzter Zugriff am 28. April 2024.Auch interessant

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